Anthropologische Dimension
In der Wanderung ist Loslösung ein ambivalentes Motiv. Es impliziert im Abschied zugleich Verlust und Gewinn. Der Ausgangspunkt ist gekennzeichnet durch Bekanntes, Vertrautes, Sicherndes. In ihm liegt das Grundbedürfnis des Menschen nach Heimat verborgen Heinrich Kanz verfasst die anthropologischen Fragen zum Wanderphänomen wie folgt:
"Wovon entfernt sich (flieht) der Mensch beim Wandern? Wohin geht (was sucht) der Mensch beim Wandern?" (Kanz, 1995, S.56)
Das Ungenügen an der Ausgangssituation liegt meiner Meinung nach begründet in einem Überschuss an Sicherheit. Wie schon angedeutet, ist der sichere Ort für den Menschen existentiell wichtig. In den unendlichen Weiten der Entscheidungsmöglichkeiten hat er sich, im Bild gesprochen, ein Haus gebaut und mit einem Garten begrenzt. Von dort aus erkundet er die Welt, endet aber stets wieder im Eigenen. Die allabendliche Rückkehr bietet ihm die Chance, zu ordnen, zu planen und zu sichern. Diese Tätigkeiten stärken und festigen. Unter der Decke des Ruhezustandes jedoch schwelt eine Vermutung der Möglichkeiten.
Auf einer Langstreckenwanderung wird das sichere Heim bis auf weiteres verlassen. Mit der Entfernung davon, beginnt alles bisher Feste zu verschwimmen, im wahrsten Sinne des Wortes fließend zu werden: Konzepte werden beweglich, Strukturen relativieren sich, Begrenzungen werden geltungslos. Der Mensch wird aufnahmefähig und durchlässig, denn er muss in seiner Nicht-Stellung alles, was auf ihn zukommt, als möglich akzeptieren. Die faszinierende Weite der Wirklichkeit dringt sozusagen in ihn ein.
Gehen
Die körperliche Bewegung bekommt in wachsender Industrialisierung und Technisierung einen neuen Akzent. Das Gehen gilt als Pendant zum bloßen Transportiert-werden. Der Mensch, welcher in Bus, Bahn, Auto oder Flugzeug unterwegs ist, reist zielbestimmt. Verzögerungen sind nicht erwünscht. Die Zeiten, um bestimmte Distanzen zu überbrücken, werden immer kürzer und mit dieser Zeitraffung geht gleichsam eine Raumraffung einher. Mit steigender Geschwindigkeit verengt sich proportional dazu der Horizont:
"Büßt die Landschaft ihre Dichte und Hintergründigkeit ein, so nähert sie sich einer Kulissenlandschaft." (Waldenfels, 1994, S.190)
Dem entgegen kommt es zu einer Raumdehnung, wenn der Mensch wandert. Er findet dabei seinen eigenen, ihm entsprechenden Rhythmus, welcher genau auf den Wahrnehmungsmodus des Menschen abgestimmt ist. Der Mensch gestaltet die Gebiete, die er durchlebt mit seinen Gedanken. Solche unsichtbaren "Markierungen" sind wieder auffindbar, wenn er viel später einmal zurück kommt. Doch werden die Landschaftsformen nicht nur mit Deutung belegt, sondern wirken in ihrer Weise auf den Menschen ein.
"Der Clou an der Raum-Theorie ist das Folgende: so wie der Raum nach außen entworfen wird - so bildet er sich nach innen, psychisch." (Bizer, 1995, S.40) Wälder, Berge, Ufer korrespondieren mit dem bewegten Menschen. In ihm finden sie Wiederklang und Entsprechung.
Ankommen
Heimat leuchtet auf im Wiedererkennen des Vertrauten und im Sinne mancher Kindheitssehnsucht, die sich für Augenblicke erfüllt. Was in der Kindheit an Geborgenheit erfahren und versagt bekommen wurde, was an Heilung und Schutz erlebt wurde, das kann in Erlebnissen des Aufgenommenwerdens wieder Bedeutung erlangen.
Darin tritt umfassendes Heil zu Tage, denn der Wandernde ist in seinem Status erst einmal nichts anderes als ein Bedürftiger, ein Fremder und führt demnach "die Randexistenz eines Außenseiters" (Drehsen, 2000, S.1348)
Wer um Aufnahme bittet, erkauft sich nicht Vertrauen mit Geld, sondern richtet sich an die Gastfreundlichkeit des Gebetenen. Dabei ist nicht entscheidend, dass der andere die Sprache versteht, sondern vielmehr die Situation des Bittenden. Die Situation wird durch die Hilfe wesentlich verändert: die Außenseiterstellung wird aufgehoben, der Gast empfängt eine neue Würde und darf "gut" sein. Aufgenommenwerden ist ein wechselseitiges Geschehen, durch welches die Menschlichkeit aufscheint.
Kanz, Heinrich: „Die Jakobuswege als Erste Europäische Kulturstraße – Wanderpädagogische Reflexionen“. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften 1995
Waldenfels, Bernhard: „In den Netzen der Lebenswelt“, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1994
Bizer, Christoph: „Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion“. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1995
Drehsen, Volker; Häring, Hermann; Kuschel, Karl-Josef; Siemers, Helge (Hrsg.): „Wörterbuch des Christentums“ Sonderausgabe. München: Orbis Verlag 1995