Psychophysiologische Dimension

Wohlbefinden
Der Aufbruch aus gewohntem Stress und der Wechsel in die Natur birgt in sich einen Entspannungseffekt. Allein die frische Luft und der Anblick vielfältigen Grüns beruhigen nachweisbar Puls und Blutdruck. Langstreckenwandern wirkt sich als kontinuierliche Bewegung stabilisierend auf den Kreislauf aus. Für die allgemeine Körperstruktur mit Knochen, Bändern, Gelenken und Muskeln stellt das Wandern einen gesunden Ausgleich zur sitzenden Tätigkeit und zur statischen Überbelastung dar. Die Bewegungen beim Wandern sind sanft und beugen Verschleißerscheinungen vor.
So ist z.B. der ständige Wechsel des Belastungsdruckes für die Wirbelsäule ein idealer Funktionsreiz. Hierbei ist jedoch die verantwortliche Gepäckbelastung bei Langstreckenwanderungen zu beachten. Der Rucksack sollte gepolsterte Schulterriemen und einen breiten Beckengurt besitzen. Mein Maßstab für ein ausreichendes Rucksackgewicht liegt bei 12 kg.
Im Wandern findet eine Übertragung von "Sanftheit" statt. Was der Körper sinnlich wahrnimmt, wirkt auf seine Abläufe entspannend, stabilisierend und wiederum auf die Psyche besänftigend: "Wandern wird unserer ureigensten Natur gerecht und versöhnt uns so mit unserer natürlichen Umwelt." (Brämer in: staff.-www.uni-marburg.de, S.10)

Anstrengung
Nach einem enthusiastischen Aufbruch, den befreienden Wirkungen des Gehens, der Faszination des Neuen, kommt es oft schon am zweiten, dritten Tag zur Anfangskrise.
Der Körper hat registriert, dass es sich um eine dauerhafte Belastung handelt und zeigt die Umgewöhnung deutlich an. Der Rücken wehrt sich durch ziehenden Schmerz gegen das Rucksackgewicht. Die Gelenke reagieren darauf meist ebenso schmerzhaft (vor allem bei nasskalter Witterung). Die Füße entwickeln Blasen gegen Reibflächen im Schuh, gegen Härte des Asphalts und gegen Hitze.
Dem entsprechen starke Gefühlsschwankungen, die häufig den Sinn der Wanderung in Frage stellen und gleichzeitig den Wunsch und Willen danach wach halten. Hier zeigt sich nun ein interessantes psychoemotionales Phänomen: Mit der körperlichen Schwächung wird die Emotionalität verstärkt, die sich spürbar macht durch eine erhöhte Sensibilität auf die Umgebung, die latente Bereitschaft, "grundlos" zu weinen und durch wachsende Selbstkonfrontation. In solchem Erschöpfungszustand können innere Krisen aufbrechen. Dabei kommen Bilder vergangener Erfahrungen auf, verbunden mit den zugehörigen Gefühlen. Diese gefühlsmäßige Verbindung von Vergangenem und der gegenwärtigen Erlebnisrealität kann verschiedene Reaktionen nach sich ziehen: von einem Ausbruch der Emotionen bis hin zum klärenden Einverständnis mit diesen Erfahrungen.
Indem das Bewusstsein durch "seelischen Müll" erschüttert und durch Bewältigungskräfte bereichert wird, findet ein Entwicklungsschub statt. Er kann zu einer Kompetenz führen, die auch auf andere Belastungsfelder übertragbar ist.

Ganzheitserfahrung
Nach fünf bis sieben Tagen hat sich der Körper auf die Belastung vollends eingestellt, die Wanderbewegung ist zum momentan vorherrschenden Alltag geworden. Dies führt zu einem veränderten Zeiterleben, welches in der Gegenwart verankert ist, da sowieso keine Termine zu planen sind. Jene Zentriertheit im Augenblick ist auch bedingt durch physische Ermüdung, darf aber nicht mit Schläfrigkeit verwechselt werden. Zwar sind die kognitiven Prozesse nicht mehr vordergründig wirksam, die sinnliche Wahrnehmung dafür umso stärker.
Die Öffnung der Ganzheitsebene wird zumeist als erstes durch das veränderte Zeitempfinden spürbar. Dabei entwickelt sich die Jetztkonzentriertheit hin zu einem Gefühl der Zeitlosigkeit. Dieses kann sich zu einer Zerdehnung oder Raffung der Zeit steigern, was Zeichen für veränderte Bewusstseinszustände sind. Ronald D. Laing, ein englischer Psychologe, ließ seinen Freund Jesse Watkins über eine solche "psychotische Episode" (wie Ärzte es nannten) berichten:
"Man sieht das Alte und Vertraute auf neue fremde Weise. Oft wie zum ersten Mal. Die alten Ankerplätze sind verloren. Man geht zurück in der Zeit. Man ist unterwegs auf der ältesten Reise der Welt." (Laing, zit.n. Watkins, 1969, S.136)

Laing, R.D.: „Die Phänomenologie der Erfahrung“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1969
Psychophysiologische Dimension

„Verlieren Sie vor allem nicht die Lust zu gehen; ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entlaufe so jeder Krankheit.“
(Sören Kiergegaard)
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